Der YMCA CVJM in der Wüste
Der lange Krieg war zu Ende, die auf Kreta, Rhodos und den anderen Inseln des Dodoekanes verbliebenen Einheiten der deutschen Wehrmacht kamen nach Ägypten, wo bereits Kriegsgefangene aus Unteritalien und Griechenland im britischen POW-Camp 305 hinter Stacheldraht auf das Kriegsende gewartet hatten. Das Camp lag etwas erhöht an der Bahnlinie Kairo-Ismalia zwischen Tel EI Kebir und EI Kassassin; man konnte von hier aus in ca. 50 km Entfernung am Abendhorizont die Pyramiden von Gizeh sehen.
Die Unterbringung war denkbar einfach: es gab nur Zelte und viel Sand, das Wasser lief nur zeitweise, aber dann reichlich. Allerdings konnten wir im Wüstenboden leichte Lehmadern finden, die es möglich machten, mittels Holzrahmen geformte Ziegel in der heißen Wüstensonne zu brennen und zum Ausbau der Zelte zu verwenden.
Die Tagestemperaturen lagen bei 40 Grad im Schatten, die Nächte waren wesentlich kühler. Um so klarer war der nächtliche Wüstenhimmel; man konnte die kleinsten Sternbilder beobachten; sogar die Planeten warfen ihre Schatten.
Schon im Herbst 1945 meldete sich YMCA Kairo bei uns; der YMCA-Sekretär Morgan kam ins Lager, und mit seiner tatkräftigen Unterstützung konnte der erste CVJM in Ägypten ins Leben gerufen werden. Größere Zelte wurden geliefert, dazu Bibeln, Losungsbücher, dann auch einige Musikinstrumente, Noten, Sportgeräte usw. Die Vereinsgründung erfolgte am 28. Januar 1946; die Gruppe zählte zunächst ca. 50 Mitglieder.
Kriegsgefangenen-Camp in Ägypten - Aquarell von Forstdirektor Erich Lung, Oberndorf. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Vorsitzender war Alfred Truschel aus Worms, nach ihm Emst Hennig aus dem sächsischen Erzgebirge. Schon vorher sah man Architekten, Ziegelfertiger, Maurer und Baugehilfen zwischen Cage 13 und 14 bei der Arbeit, und zwei Monate später konnte das neue CVJM-Heim eingeweiht werden.
Dank der YMCA-Hilfe war es eines der schönsten Zelte im Camp 305 und für die Versammlungen des CVJM ebenso gut geeignet wie als Ort der Ruhe für unsere Lagerkameraden. Die Arbeit stand entsprechend den Grundsätzen des CVJM unter dem Bekenntnis zu Jesus Christus. Ein Teil der Mitglieder legte besonderen Wert auf die Bibelarbeit, andere folgten den Richtlinien der modernen Jugendbewegung und wollten sich mehr mit den Problemen der Nachkriegszeit befassen. Verschiedene Experimente waren notwendig, um eine endgültige Arbeitsweise zu finden. Die Bibelarbeit wurde von den Heimabenden getrennt. in denen auch literarische, musikalisch e und andere Unterhaltung geboten wurde. Unsere Arbeit im Camp 305 gipfelte schließlich in einem Dreiwochen-Lehrgang, in welchem interessierte Kameraden eine spezielle Unterweisung als "Christlicher Jugendführer" erhielten.
Unsere Lagerpfarrer. die zuerst mit der Führung und Organisation des CVJM voll beschäftigt waren, erfuhren jetzt eine Unterstützung durch andere CVJM-Mitglieder. Mit allen diesen Aktivitäten hatte unser CVJM eine feste Form gefunden und wurde als selbständiges MitgIied des YMCA-Weltbundes anerkannt.
Mit Unterstützung der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe in Kairo wurde im Camp 305 auch eine Wüstenuniversität gegründet, in der 20 bis 30 Professoren und Lehrer auf verschiedenen Gebieten tätig, waren. Hauptgruppe war die Theologische Schule, deren Hörer fast ausschließlich dem CVJM angehörten. Leiter dieser Schule war Dr. theol. Wolfgang Arnold. der später Pfarrer in unserer Partnerstadt Bautzen und von 1957 bis 1974 Superintendent an der durch die Wiedervereinigung berühmt gewordenen Leipziger Nikolaikirche war und heute in Lemgo / Lippe lebt. Hier konnten die angehenden Theologen schon ihr Graecum und Hebraicum absolvieren, was später beim Weiterstudium in Deutschland voll anerkannt wurde. Dekan der kirchlichen Gesamtarbeit im Camp 305 und 380 war der bayrische Landesjugendpfarrer Norbert Rückert, der in Nürnberg lebte und 1990 verstorben ist. Auch ihm haben wir viel zu verdanken.
Ein neuer Abschnitt unserer CVJM-Arbeit begann im Spätsommer 1946 mit der Auflösung des POW-Carnp 305 und der Übersiedlung nach dem früheren Camp 307, nun POW-Camp 380. das gleichzeitig Durchgangslager für alle Heimkehrertransporte wurde. Das neue Camp lag in der Nähe des englischen Hauptquartiers von Middle East bei EI Fayed am Westufer des Bittersees, der vom Suezkanal durchflossen wird. Hierdurch war auch Gelegenheit geboten, später ein kleines Strandbad für die Kriegsgefangenen zu errichten, die sich übrigens tagsüber in der Nähe des Lagers frei bewegen durften. Nach dem Bau einer fast massiven Lagerkirche, wobei die CVJM-Mitglieder tatkräftig mitgeholfen hatten, wurde der Neubau des CVJM-Heimes in Angriff genommen.
Die Fertigstellung wurde leider durch ein Unwetter verzögert, dessen Wassermassen die bereits stehenden Grundmauern zum Einsturz brachten; die Arbeiten wurden dann aber doch zu einem guten Ende geführt. Die besonderen Verhältnisse in dem neuen Camp, vor allem die große Zahl der Gefangenen, machte es notwendig, unsere Arbeit zu verstärken und auch in der Öffentlichkeit fortzusetzen. Entscheidend hierfür war, daß die Kriegsgefangenenhilfe des Weltbundes der YMCA ihren Sitz von Kairo nach Camp 380 verlegte und sich in unmittelbarer Nähe der Lagerkirche und des CVJM-Heimes am Kirchplatz niederließ. Ihre Einrichtungen wie Büro, Verkaufsstelle, Bücherei, Lese- und Tischtennisräume waren für alle Lagerbewohner offen und wurden auch zahlreich und gern besucht.
Von hier aus wurde auch "Der Ruf", das evangelische Gemeindeblatt für die deutschen Kriegsgefangenen im Mittleren Osten in monatlicher Folge an alle Arbeitskompanien, Lager usw. gesandt, wo es überall gern gelesen wurde. Die Hauptarbeit hierfür leistete der in Kairo ansässige dänische YMCA-Sekretär Christiansen, der sehr oft bei uns im Lager war und verständlicherweise auch sehr gern gesehen wurde. Er sorgte dafür, daß der notwendige Bedarf für alle möglichen Dinge des täglichen Lebens gedeckt war und der Nachschub keine Unterbrechung erlitt. Es gab wohl keinen Wunsch seitens der POW, den Herr Christiansen nicht erfüllt hätte. Und für michpersönlich war es eine besondere Freude, neben meiner Tätigkeit als Englisch-Lehrer an der Wüstenuniversität und als Mitglied des über 50 Mann starken Lagerchores, der in den Arbeitskompanien, bei den Engländern in Ismalia, Suez usw. gute Konzerte gab, auch in der YMCA-Kriegsgefangenhilfe mit Herrn Christiansen zusammen arbeiten zu können. Das neue CVJM Heim war naturgemäß durch die YMCA mit allen Bequemlichkeiten verschiedenster Art und sogar mit elektrischem Licht ausgestattet und bildete den Mittelpunkt des ganzen Lagers.
Kriegsgefangenen-Camp in Ägypten - Aquarell von Forstdirektor Erich Lung, Oberndorf. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Neben den regelmäßigen Bibelabenden und kulturellen Veranstaltungen hatte sich ein eigenes CVJM-Orchester gebildet; die Instrumente hierzu wurden von der YMCA zur Verfügung gestellt. Dadurch wurde vielen Interessenten die Möglichkeit gegeben, nicht nur gute Musik zu hören, sondern auch selbst auszuüben und zusammen mit dem Lagerchor die musikalische Ausgestaltung der Gottesdienste und anderer Veranstaltungen zu übernehmen. Daneben wurde von CVJM-Mitgliedern das ."Evangelische Männerwerk" gegründet, zu dessen Abenden alle Angehörigen des Lagers und seiner Umgebung, durch Plakate an allen Cagetafeln eingeladen wurden. Diese Veranstaltungen, in denen zu brennenden Tagesfragen und Problemen der damaligen Zeit in Vortrag und Diskussion Stellung genommen wurde, fanden im Camp großes lnteresse. Der Zuspruch hierzu konnte so groß sein, daß zum Beispiel bei dem Thema "Der Kampf um den § 218" die Veranstaltung aus der Lagerkirche ins CVJM-Heim und ins Freie übertragen werden mußte. Sehr erfreulich war, daß dem britischen YMCA-Kreis nahestehende Damen und Herren aus England unseren CVJM im Camp 380 besuchten und damit ein normales und fast freundschaftliches Verhältnis zu unseren "Gastgebern" herstellten.
Das CVJM-Orchester gab am 7. Juni 1948 sein Abschiedskonzert im POW-Camp 380. Im gleichen Jahr noch hatten die letzten Kriegsgefangenen Ägypten verlassen und waren in die deutsche Heimat zurückgekehrt. Der CVJM Ägypten war zwar mit der Entlassung seiner Mitglieder aufgelöst, fand aber seine Fortsetzung mit der Neugründung des CVJM vor 40 Jahren in Worms, so daß seine Tradition gewahrt blieb.
CVJM in der Wüste Ägyptens - zunächst ein Problem, dann aber eine Arbeit, die fern von Deutschland für Menschen in britischer Kriegsgefangenschaft durchgeführt und auch mit Hilfe des YMCA-Weltbundes erfolgreich gestaltet werden konnte, wofür wir alten POW noch besonders dankbar sind. Abschließend darf ich sagen, daß YMCA / CVJM in Ägypten seine Bewährungsprobe bestanden hat, und wir danken Gott. daß er dieser unserer Arbeit im Zeichen der Nächstenliebe seinen Segen nicht versagt hat.
Horst Wagner, POW ME 174302